„Kameraüberwachung in Hannover — Fluch oder Segen?” — Rede von Ratsherr Dirk Hillbrecht, gehalten zur Aktuellen Stunde am 22. März 2012 *

 

Lie­be Zuhörer,

Herr Rats­vor­sit­zen­der,

Herr Ober­bür­ger­meis­ter,

lie­be Kol­le­gin­nen und Kollegen,

ich erin­ne­re mich noch gut an den Zei­tungs­ar­ti­kel: In der U‑Bahnstation Water­loo wür­den neue, hoch auf­lö­sen­de Kame­ras instal­liert, damit die nahe Poli­zei bei einem Not­fall schnell davon mit­be­kä­me. So hieß es damals. Wer aber, und dar­auf möch­te ich hin­aus, wer aber von der Kame­ra nicht auf­ge­zeich­net wer­den möch­te, der kön­ne sich ein­fach an dem am Boden auf­ge­mal­ten Bereich ori­en­tie­ren. Nur die­ser wür­de von der Auf­zeich­nung erfasst. Ich habe die­sen Bereich dann selbst vie­le Male gese­hen: Wer ihn nicht betrat, wur­de nicht gefilmt. Ganz ein­fach! Wis­sen Sie noch wann das gewe­sen ist?

Ich las­se das für den Moment noch mal offen, aber Sie wer­den mir zustim­men: Die Zei­ten haben sich seit­dem erheb­lich geän­dert. Wenn man — so wie damals in der U‑Bahn — auf­ge­zeich­ne­te Berei­che mar­kie­ren woll­te wäre heu­te die gan­ze Stadt voll gestri­chel­ter Lini­en. Die Über­wa­chung ist längst allumfassend.

Laut nie­der­säch­si­schem Daten­schutz­be­auf­trag­ten hat sich die Zahl kom­mu­nal betrie­be­ner Kame­ras nie­der­sach­sen­weit im letz­ten Jahr­zehnt mehr als ver­acht­facht! Und das ist nur die Spit­ze des Eis­ber­ges bei den vie­len ande­ren öffent­li­chen, halb­öf­fent­li­chen und pri­va­ten Betrei­bern von Kame­ras und Überwachungstechnik.

Die­se rasan­te Ent­wick­lung hat zur Fol­ge, dass von den gut gemein­ten Mar­kie­run­gen am Boden ledig­lich klei­ne Schild­chen an Later­nen­mas­ten übrig geblie­ben sind. Auf die­sen steht: „Die­ser Bereich wird zu Ihrer Sicher­heit videoüberwacht!“

Das sind:  eine Infor­ma­ti­on und eine Behauptung.

„Irgend­wo steht eine Kame­ra.“ = Information.

Und: „Sie sind dadurch siche­rer.“ = Behauptung.

Was bedeu­tet „Sicher­heit“, mei­ne Damen und Herren?

Wir hat­ten das The­ma eben schon, da hieß es: „Sicher­heit“ sei Licht in der Eilen­rie­de. Aber anders her­um, lässt sich „Sicher­heit“ bele­gen, „Sicher­heit“ durch Kame­ras nämlich?

Rund 500 Kame­ras hat der nie­der­säch­si­sche Daten­schutz­be­auf­trag­te in der Bahn­hof­stra­ße, zwi­schen Bahn­hof und Kröp­cke, im Jahr 2009 gezählt. 500 Kame­ras! Trotz­dem wur­de die dor­ti­ge Spar­kas­sen-Filia­le im Jahr 2010 drei­mal über­fal­len. Ohne dass die Täter gefasst wer­den konn­ten. Und übri­gens auch ohne dass sich die Täter von der geball­ten Ansamm­lung von Über­wa­chungs­tech­nik hät­ten abschre­cken las­sen. „Sicher­heit“ wur­de so von die­sen Kame­ras auf jeden Fall nicht erzeugt.

In 267 Ver­fah­ren hat die Poli­zei­di­rek­ti­on Han­no­ver in den Jah­ren 2006 bis 2010 Auf­zeich­nun­gen ihrer Video­ka­me­ras zur Unter­stüt­zung ihrer Ermitt­lun­gen ver­wen­det. Die­se Zahl hat kürz­lich die Lan­des­re­gie­rung mit­ge­teilt. Auf eine ent­spre­chen­de Anfra­ge übri­gens der Grü­nen im Land­tag, die ja gera­de „sehr zahl­reich“ hier ver­tre­ten sind. Aber wie häu­fig waren denn die­se Auf­zeich­nun­gen jetzt für den Ermitt­lungs­er­folg aus­schlag­ge­bend? Wie häu­fig gab es kei­nen Erfolg, trotz die­ser Bil­der? Bei wie vie­len ande­ren Vor­gän­gen waren gar kei­ne Kame­ra­bil­der im Spiel? All dies erfah­ren wir nicht! Ein Schelm, der Böses dabei denkt!

Mei­ne Damen und Herren,

die mitt­ler­wei­le all­um­fas­sen­de Auf­zeich­nung und Über­wa­chung des öffent­li­chen Rau­mes wirkt sich zwangs­läu­fig auch auf das öffent­li­che Leben aus. Aber wie?

Die Ände­run­gen sind schlei­chend. Stück um Stück wer­den wir eine über­wach­te Gesell­schaft. Wol­len wir das? Die­se Fra­ge muss sich unse­re Stadt­ge­sell­schaft stel­len. Zu die­ser Fra­ge muss die­se auch Stel­lung bezie­hen. Wir als Rat sind das poli­ti­sche Zen­trum der Stadt­ge­sell­schaft und des­halb sind das Fra­gen, die auch uns unmit­tel­bar betref­fen, zu denen wir Stel­lung bezie­hen müs­sen. Natür­lich kann man sagen: „Hey, das sind nicht unse­re Kame­ras. Die stellt die Bahn auf, die üstra oder die Poli­zei.“ Aber die­se Kame­ras erfas­sen das Leben der han­no­ver­schen Bür­ger, auch unser Leben und des­halb sind das eben doch unse­re Kame­ras. Wir haben das Recht und die Pflicht uns mit ihnen zu beschäf­ti­gen. Und der Zeit­punkt dafür ist jetzt und hier.

Mei­ne Damen und Herren,

wir ste­hen für eine freie Gesell­schaft selbst­be­stimm­ter Bür­ger und ich hof­fe instän­dig, dass sich alle Anwe­sen­den in die­ses „Wir“ ein­be­zo­gen füh­len – und auch alle, die der­zeit vor der Tür sind. Frei­heit und Selbst­be­stim­mung bedeu­tet, dass ich als Bür­ger mich eben nicht jeder­zeit für mein Han­deln und Sein recht­fer­ti­gen muss. Genau ein sol­cher Recht­fer­ti­gungs­druck ent­steht aber durch die stän­di­ge Video­über­wa­chung.  In der Pira­ten­par­tei wird bei der Dis­kus­si­on die­ser The­ma­tik gern der nord­ame­ri­ka­ni­sche Staats­mann Ben­ja­min Frank­lin zitiert: „Wer die Frei­heit auf­gibt, um Sicher­heit zu gewin­nen, der wird am Ende bei­des verlieren.“

An die­sem Satz mei­ne Damen und Her­ren, an die­sen Satz muss ich jedes Mal den­ken, wenn ich an den Later­nen vor­bei­ge­he, mit die­sen klei­nen blau­en Auf­kle­bern, die mir erzäh­len, dass dort „zu mei­ner Sicher­heit“ video­über­wacht wird.

An was den­ken Sie, mei­ne lie­ben Kol­le­gin­nen und Kollegen?

Vie­len Dank!

(Anmer­kung: Es fol­gen Rede­bei­trä­ge von Rats­mit­glie­dern der ande­ren Frak­tio­nen, danach spricht noch ein­mal Dirk Hillbrecht.)

Lie­be Beob­ach­ter und lie­be Beobachtete,

jetzt haben wir Eini­ges gehört zu dem The­ma. Auf ein paar Din­ge möch­te ich jetzt eigent­lich ganz ger­ne ein­ge­hen.  Ich habe häu­fi­ger gehört, Kame­ras wür­den schüt­zen. Aber wie? Sol­len die dann von ihrem Pfahl her­un­ter sprin­gen und irgend­je­man­den zu Hil­fe eilen?

Das Bei­spiel mit den U‑Bahn-Schlä­gern zeigt: das funk­tio­niert eben nicht so ein­fach. Und wenn Sie einer­seits sagen, da wer­den Leu­te geschützt, und ande­rer­seits eben Bei­spie­le anfüh­ren, wo Leu­te schwer ver­letzt wer­den, dann fin­de ich das schon in sich wider­sprüch­lich, sage ich mal. Das Ent­schei­den­de erscheint mir dabei, dass wir, der Begriff fiel hier ja auch, von einem Sicher­heits­ge­fühl reden. Ein Sicher­heits­ge­fühl ist aber eben nicht wirk­li­che Sicher­heit. Und wirk­li­che Sicher­heit ist eigent­lich nur das, was uns tat­säch­lich hilft. Und inso­fern den­ke ich, greift die­ser Gedan­ke nach einer gefühl­ten Sicher­heit hier zu kurz. Schließ­lich wur­de hier immer wie­der gesagt, die­se Kame­ra­stand­punk­te müs­sen geprüft wer­den. Geprüft wer­den die, alle wer­den geprüft. Es gibt Daten­schutz­be­auf­trag­te etc.

Trotz­dem wer­den es immer mehr Kame­ras. Trotz­dem haben wir absur­de Anzah­len von Kame­ras in die­ser Stadt, zum Teil in der Bahn­hof­stra­ße. Das ist gar nicht so ein Pro­blem des Prü­fens, son­dern es ist ein gesell­schaft­li­ches Pro­blem. Dass man die­se Kame­ras will, ob man die­se Kame­ras will. Dass dar­über even­tu­ell nicht genug dis­ku­tiert wird. Und des­we­gen ist es ein Pro­blem, das sich nicht auf die­se Wei­se lösen lässt.

Ich möch­te, mei­ne Damen und Her­ren, ein­mal kurz wei­ter­den­ken, wie näm­lich ein sol­ches Sze­na­rio sich wei­ter ent­wi­ckelt. Auf euro­päi­scher Ebe­ne gibt es da das Pro­jekt INDECT (Intel­li­gent infor­ma­ti­on sys­tem sup­port­ing obser­va­ti­on, sear­ching and detec­tion for secu­ri­ty of citi­zens in urban envi­ron­ment) — das steht, es ist eine eng­li­sche Abkür­zung, frei über­setzt inet­wa für ein „intel­li­gen­tes Infor­ma­ti­ons­sys­tem, das die Über­wa­chung und die Sicher­heit von Bür­gern in einer städ­ti­schen Umge­bung unter­stützt“. Da sind so genann­te Sicher­heits­stra­te­gen, die sich dar­un­ter vor­stel­len, dass die­ses Sys­tem in Echt­zeit Kame­ra­bil­der ana­ly­sie­ren soll, Per­so­nen dar­auf auto­ma­tisch erkennt und dann auto­ma­tisch Pro­fi­le die­ser Per­so­nen erstellt. Dazu wer­den Poli­zei­da­ten­ban­ken durch­sucht, dazu wird aber bei­spiels­wei­se tat­säch­lich auch auf öffent­li­che Face­book-Pro­fi­le oder Ähn­li­ches zuge­grif­fen. Und damit will man dann das Ver­hal­ten Ein­zel­ner vor­her­sag­bar machen. Damit wir alle dann, und das ahnen Sie jetzt viel­leicht, damit wir alle dann „siche­rer“ werden.

Etwas ande­res wer­den wir durch so ein Vor­ge­hen aber auf jeden Fall. Denn wir wer­den ver­däch­tig. Denn in die­ser Welt von INDECT ist erst ein­mal jeder und alles ver­däch­tig. Han­no­ver­sche Fuß­ball­fans wer­den bei einem Test­lauf sol­cher Sys­te­me wohl übri­gens zu unfrei­wil­li­gen Ver­suchs­ka­nin­chen. Näm­lich im Rah­men der Fuß­ball-Euro­pa­meis­ter­schaft in Polen und der Ukrai­ne. INDECT soll aus­drück­lich in städ­ti­schen Umge­bun­gen ein­ge­setzt wer­den. Han­no­ver, und da wer­den Sie mir Recht geben, Han­no­ver ist so eine städ­ti­sche Umgebung.

Trotz­dem hof­fe ich, dass wir alle uns immer gegen den Ein­satz sol­cher Tech­ni­ken in unse­rer Stadt wen­den wer­den. Egal, ob wir nun gefragt wer­den oder nicht. Denn es kann eben nicht in unse­rem Sin­ne sein, dass jeder Bür­ger Han­no­vers immer und über­all ver­däch­tig ist.

Zu Beginn die­ser Aktu­el­len Stun­de habe ich von der Ein­rich­tung einer Kame­ra am Water­loo und den Mar­kie­run­gen dort erzählt. Ich hat­te offen gelas­sen, wann damals die­se „neu­ar­ti­ge“ Kame­ra instal­liert wur­de. Mei­ne Damen und Her­ren, das war im Jahr 2001. Das ist gera­de ein­mal elf Jah­re her. Längst ist die U‑Bahnstation „Water­loo“ bis in den letz­ten Win­kel video­über­wacht. Die­se Mar­kie­run­gen auf dem Boden aber, die hat nie jemand ent­fernt. Sie kön­nen die heu­te noch sehen. Aber bes­ser soll­te ich sagen: Sie kön­nen die heu­te noch besich­ti­gen. Denn sie neh­men sich in der heu­ti­gen Zeit ein wenig ver­al­tet aus. Wie eine Schreib­ma­schi­ne oder ein Wähl­schei­ben­te­le­fon. Aber sie ste­hen für eine Zeit, in der der Zugang zum The­ma „Über­wa­chung der Gesell­schaft“ noch ein ande­rer war. Ich spre­che von einer Zeit, in der ein selbst­ver­ständ­li­ches Bür­ger­recht galt. In der man nicht auf Schritt und Tritt gefilmt oder „zur eige­nen Sicher­heit“ video­über­wacht wird.

Es gilt für uns, die­ses Recht wie­der mehr in den Blick zu neh­men. Und es liegt an uns als Rat, die öffent­li­che Dis­kus­si­on dar­über neu zu bele­ben. Ich wün­sche mir eine freie, offe­ne Gesell­schaft, in der wir nicht zu per­ma­nen­ten Objek­ten kon­trol­lie­ren­der Beob­ach­tung wer­den. Heu­te gilt mehr denn je, was Ben­ja­min Frank­lin vor über 300 Jah­ren sag­te: “Wer die Frei­heit auf­gibt, um Sicher­heit zu gewin­nen, der wird am Ende bei­des verlieren.“

Vie­len Dank!

 

 

* bean­tragt von der PIRATEN-Fraktion